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Jürgen Habermass

Begonnen von Berthold, 14.Nov.21 um 22:15 Uhr

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Berthold

Das Geschwätz von gestern:


Nicht gut gealtert: das Denken von Jürgen Habermas / dpa
Jürgen Habermas - Geschwätz von gestern: Der Philosoph und der Notstand

Mit dem gesellschaftlichen Leben scheinen wegen der Corona-Pandemie auch so manche gesellschaftspolitischen Erkenntnisse auf Eis gelegt worden zu sein. Renommierte Intellektuelle aus der systemkritischen Sphäre werden plötzlich zu den unbarmherzigsten Verteidigern der neuen Normalität. Darunter auch Deutschlands berühmtester Denker: Jürgen Habermas.

VON PHILIPP FESS am 14. November 2021 CICERO
Autoreninfo
Philipp Fess ist Journalist in Karlsruhe.


,,Notstandsgesetze – der Tod der Demokratie", liest man am 11. Mai 1968 auf den Transparenten bei einer Protestveranstaltung im Bonner Hofgarten. Der Entwurf des Gesetzes, das 19 Tage später verabschiedet werden wird, sieht vor, die Handlungsgewalt des Staates in Kriegs- und Krisenfällen zu erweitern. Es schlägt ,,die Stunde der Exekutive". Und die der Studentenbewegung, die sich damals zusammen mit den Gewerkschaften und der FDP vehement gegen die ,,Einschränkung von Grundrechten", eine ,,Ausschaltung des Parlaments" – mit der Gefahr der ,,Notstandsdiktatur" – und gegen eine ,,pauschale Rechtsetzungsermächtigung" der Exekutive stemmt. 

Drei Jahre zuvor leitet Jürgen Habermas eine Diskussion beim Bonner Anti-Notstands-Kongress an der Universität der damaligen Bundeshauptstadt. Die Teilnehmer warnen vor einer Neuauflage der ,,Ermächtigungsgesetze" von 1933. Damals gilt das noch nicht als Verharmlosung des Nationalsozialismus, sondern als berechtigte Furcht vor seinem Wiederaufkeimen. Zusammen mit anderen Geistesgrößen wie Heinrich Böll und Hans-Magnus Enzensberger stellt sich Habermas entschieden gegen die ,,erkennbare politische Gefahr" eines (militärischen) Totalitarismus. 

Wie im Krieg
Und heute? Heute sind wir im Krieg, schreibt der mittlerweile 93-Jährige in seinem Essay ,,Corona und der Schutz des Lebens", ausgerechnet publiziert im einstigen ,,Zentralorgan der APO" im September 2021: ,,... wie im Krieg besteht das strategische Ziel in der möglichst schnellen Bezwingung des Gegners bei möglichst geringen eigenen Verlusten", ist zu lesen.

Die neue Notstandspolitik diskutiert Habermas nicht (mehr) vor dem Hintergrund einer totalitären Gefahr, sondern lediglich als ,,Kontroverse zwischen den Verteidigern strikter Vorbeugungsmaßnahmen und den Fürsprechern eines libertären [nicht: liberalen!] Öffnungskurses". Das heißt, sofern letztere sich nicht anmaßen, die Verhältnismäßigkeit zwischen einer als gesamtgesellschaftlich moderat eingestuften Gefahr und ,,einer angeblich autoritären Regierung" einzufordern. Sonst dürften sie bei Habermas ganz schnell im Topf der ,,rechtsradikalen ... Corona-Leugner" und deren ,,politisch aggressive[r] und verschwörungstheoretisch begründete[r] Verleugnung der pandemiebedingten Infektions- und Sterberisiken" landen.

Alternativlose Haltung
Wie autoritär eine Regierung ist, die ihren Bürgern verfassungswidrigerweise verbietet, auf Parkbänken zu sitzen, sei mal dahingestellt. Wichtiger ist, welche Haltung zum epidemiologischen Geschehen Habermas hier mehr oder weniger stillschweigend für alternativlos erklärt: Wer den warnenden Worten – Zitat: ,,hartnäckiger" – medialer Experten wie Karl Lauterbach nicht folgt, dem verbietet sich die gleichberechtigte Teilnahme am Diskurs, den Habermas einmal – zu Recht! – als Grundbedingung für seine deliberative (Ideal-)Demokratie voraussetzte.

Gleichzeitig redet er hier einer Expertokratie das Wort, die im krassen Gegensatz zur von ihm einst geforderten Vereinigung von (abstraktem) ,,System" und (konkreter) ,,Lebenswelt" steht. Denkt man an Aussagen wie die der Virologin Melanie Brinkmann, das Händeschütteln oder Biertrinken in einer Kneipe sei auch unabhängig von Corona aufgrund des Hygienerisikos keine gute Idee, fragt man sich, wie viel Lebenswelt in manchem Experten noch steckt. Andererseits ist Brinkmann ja kurioserweise bereit, das Risiko des Körperkontakts einzugehen, wenn Joshua Kimmich sich endlich impfen lässt.

Verantwortung an Experten abgegeben
Der politische Philosoph Habermas scheint hingegen so gar nicht mehr bereit, die Regeln des Zusammenlebens in ,,kommunikativer Interaktion" immer wieder neu auszuhandeln. Stattdessen gibt er die politische Verantwortung an die Experten ab und erhebt so das rein zweckmäßige Handeln, die ,,instrumentelle Vernunft" zum höchsten Prinzip. Höchst fraglich, ob er das früher genauso gesehen hätte.

Dazu ein Auszug aus ,,Technik und Wissenschaft als Ideologie" (1968): ,,Die Entpolitisierung der Masse der Bevölkerung, die durch ein technokratisches Bewußtsein legitimiert wird, ist zugleich eine Selbstobjektivation der Menschen in Kategorien gleichermaßen des zweckrationalen Handelns wie des adaptiven Verhaltens: die verdinglichten Modelle der Wissenschaften wandern in die soziokulturelle Lebenswelt ein und gewinnen über das Selbstverständnis objektive Gewalt. Der ideologische Kern dieses Bewußtseins ist die Eliminierung des Unterschieds von Praxis und Technik."

Vielleicht argumentierte so aber auch nur jemand, der noch nicht Teil der Risikogruppe war. Dennoch gibt es auch solche, die auch heute die gleichen totalitären Gefahren sehen wie Adorno, Horkheimer und Habermas – zu dessen besten Zeiten. Und weiter gibt es darunter auch diejenigen, die sich an ihre Anfänge in der Notstandsbekämpfung erinnern und sich von der Zeit nicht haben verbiegen lassen. Giorgio Agamben zum Beispiel.     
Weniger gelobt ist genug kritisiert (frei nach Peter Altmaier)